Im Westen wird der Konflikt kaum beachtet, doch er birgt eine Brisanz, die Auswirkungen auf den gesamten asiatischen Raum haben könnte: Der Grenzstreit zwischen China und Indien.
Welche politischen, wirtschaftlichen und geostrategischen Aspekte so wichtig sind, dass die beiden Atommächte im Himalaya einen Krieg riskieren, erläuterte Dr. Manuel Vermeer, Gründer und Inhaber von Dr. Vermeer Consult sowie einer der renommiertesten Experten für China und Indien, beim virtuellen Webseminar am 28. Oktober 2020.
Immer wieder treten in der Grenzregion Konflikte auf. Beim schwersten Zwischenfall seit Jahrzehnten starben vergangenen Juni 20 indische und eine unbekannte Anzahl chinesischer Soldaten auf 4.000 Meter Höhe. Diese Territorialstreitigkeiten belasten die Beziehungen zwischen Indien und China schwer. „Juristisch ist der Konflikt nicht zu lösen“, stellte Vermeer fest.
Denn die Verträge über die Grenze zwischen China und Indien wurden 1914 zwischen Briten und Tibetern geschlossen. Deshalb wird der Grenzverlauf der 3.000 Kilometer weder von der chinesischen noch von der indischen Regierung anerkannt. Das zeigt sich auch in der Bezeichnung, die für das Gebiet verwendet wird: „Line of Actual Control“ und eben nicht „Grenze“.
Die unterschiedliche Interpretation der Grenze ist auch an den Landkarten der beiden Länder ersichtlich. Die Verwendung einer „falschen“ Karte zieht Probleme nach sich – sowohl in Indien als auch in China. „Es geht nicht nur um ein paar Quadratkilometer, sondern um massive Gebietsansprüche“, erklärt der Asien-Experte. Das manifestiert sich beispielsweise an Aksai Chin, der Hochlandregion am Westrand von Tibet, nordöstlich von Kaschmir. Das etwa 38.000 km² große Gebiet steht unter chinesischer Kontrolle, wird aber von Indien beansprucht.
Unmittelbar damit verbunden ist das sogenannte „Dilemma von Malakka.“ Die Route vom Indischen Ozean durch die Meerenge von Malakka in den Pazifik ist eine wichtige Versorgungsader. Durch sie werden 40 Prozent der Öltransporte und 70 Prozent der Container für China geschleust. Doch die Stelle ist nur zwei Seemeilen breit und nicht sehr tief – im Konfliktfall leicht zu blockieren. „Öl und Logistik sind die Schlüsselkomponenten für den Konflikt zwischen China und Indien“, konstatierte Vermeer.
China arbeitet daran, dieses Dilemma aufzulösen: So gibt es Überlegungen, Öl aus Pakistan zu erhalten. Das würde die Wege verkürzen, die Route müsste allerdings erst gebaut werden. Schon heute errichtet China eine schlagkräftige Marinepräsenz im Indischen Ozean auf. Der erste Marinestützpunkt im Ausland ist bereits seit 2017 im Einsatz: In Dschibuti, am Horn von Afrika. Darüber hinaus zeigt China im Indopazifik auf verschiedenste Weise seine Flagge, ebenso wie die Atommacht Indien. Sie baut Inseln zu sogenannten „smarten Inseln“ aus, um das Meer zu überwachen. Vermeer bilanziert: „Der Konflikt ist deshalb kein innenpolitischer, sondern ein geopolitischer“.
Beide Seiten rüsten mit Kampfflugzeugen auf, Indien verstärkt zudem seine Infanterie. Im Grenzgebiet herrscht derzeit ein Zustand von „No war, No peace“. Vermeer ist sich sicher: „Niemand will einen Krieg anfangen.“ Doch, so seine Befürchtung: „Er könnte aus Versehen ausgelöst werden, weil in diesem Gebiet so viel Militär stationiert ist.“
Im Anschluss an den hochaktuellen Vortrag diskutierten rund 50 Teilnehmer aus Deutschland, China und Großbritannien vertiefende Aspekte wie die Haltung der USA. Die Diskussion moderierte Stefan Geiger, Geschäftsführer und Vorstandsmitglied des Chinaforum Bayern e.V.
China@Home am 28.10.2020: „„Atommächte auf Konfrontationskurs – China und Indien im 21. Jahrhundert““
Autorin: Sigrid Eck